AUFSTIEG UND FALL DER SEPARATISTEN VON KARABACH (1987-2023)

AUFSTIEG UND FALL DER SEPARATISTEN VON KARABACH (1987-2023)

Wien / DasFazit

Ein Gastbeitrag von Dr. Michael Reinhard Heß

1987 bekam in Armenien und Karabach eine schwärmerische nationalistisch-armenische Bewegung nie gekannten Aufwind. Diese nahezu alle Armenier Sowjetarmeniens und Aserbaidschans erfassende Strömung mit Protagonisten wie Silva Kaputikyan und Zori Balayan aktivierte romantische Geschichtsmythen und Versprechen, die es in der einen oder anderen Form schon spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gegeben hatte. Unter der dezidiert antinationalistischen Politik der Sowjetunion hatten sie bis dahin aber keine Chance gehabt hatten, offen zu Tage zu treten oder gar dominant zu werden. Ab jenem Jahr aber fühlten sich die Anhänger dieses Denkens immer stärker ermutigt, auch durch Signale, die aus der unmittelbaren Umgebung des damaligen Generalsekretärs der KPdSU, Michail Gorbatschow, kamen. Eines dieser Signale war der Besuch von Gorbatschows armenischstämmigem Wirtschaftsberaters Abel Aganbekjan in Paris im Herbst 1987, wo dieser hochrangige SowjetfunktionärVertreter der armenischen Diaspora traf.

Der sowjetische Hintergrund des Konflikts wird in der aktuellen westlichen, vor allem auch deutschsprachigen, Wahrnehmung manchmal zu wenig beachtet. Er liefert jedoch wichtige Hinweise zur Beantwortung der Frage, warum die Zuspitzung ausgerechnet damals, in der Glasnost- und Perestrojkazeit, erfolgte. Wie sich später immer wieder zeigen sollte, vor allem während des Moskauer Augustputschs im Jahr 1991, hatte Gorbatschow sich mit seiner Umbaupolitik extrem mächtige Feinde in der Zentrale gemacht. Spätestens seit dem Zheltoqsan-Massaker in Kasachstan im Dezember 1986 kam nationalistisch geprägter Widerstand aus der Peripherie hinzu. Insgesamt waren die Gorbatschowjahre (1985-1991) eine Phase der Unruhe, Instabilität und Schwächung der Sowjetmacht.

Gorbatschow wusste, dass all diese Gegner seiner Reformagenda genug Potential mobilisieren konnten, um ihm das Genick zu brechen. Eine der Methoden, um dies zu verhindern und das Potential zu neutralisieren, war das Schüren von nationalistisch geprägten Konflikten in den Republiken mit nichtslawischer Titularnation der Sowjetunion.

Am 23. Februar 1988 demonstrierten mehrere Hunderttausend (nach einigen Schätzungen bis zu einer Million) Menschen in Eriwan für einen armenisch-nationalistischen Traum mit separatistischen Untertönen, die auf die Herauslösung von Gebieten Aserbaidschans abzielten. Einige der Demonstranten sollen Bilder von Lenin und Gorbatschow gezeigt und diese sowie die KPdSU gefeiert haben.

Gorbatschows Reaktion auf den neuen nationalistischen Überschwang der Armenier war ambivalent. In einer Sitzung des Zentralkomitees der KPdSU in Moskau, die kurz nach der Demonstration stattfand, lehnte er eine Infragestellung der verfassungsmäßigen Ordnung, das heißt der bestehenden administrativ-juristischen Struktur der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik, kategorisch ab, signalisierte zugleich aber Bereitschaft zur Bereitstellung wirtschaftlicher und anderer Hilfen für die betroffenen Gebiete, damals als „Autonome Region Berg-Karabach“ (NKAO) bekannt. Während das offizielle Moskau einen Teil der nationalistisch Enthusiasmierten als „Nationalisten“ und „Extremisten“ bezeichnete (was damals neben „Hooliganismus“ zu den stärksten Vorwürfen überhaupt gehörte), deutete es ihnen gegenüber auf der anderen Seite Kompromissbereitschaft an. Durch diese widersprüchliche Haltung wurde die nationalistische und separatistische Bewegung rasch immer noch stärker. Der Konflikt mit Aserbaidschan weitete sich am Ende zu einem richtigen Krieg aus. Allerdings konnte die die Sowjetunion sich zu dem Zeitpunkt, als dies geschah, an der Wende der Jahre 1991 und 1992, nicht mehr davon profitieren, weil sie selber Geschichte wurde.

Den sogenannten „Ersten Karabachkrieg“ gewannen die Armenier, auch mit russischer Hilfe. Etwa 20 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums wurde von Separatisten besetzt, Hunderttausende Aserbaidschaner vertrieben, darunter alle etwa 47 000 Karabachaserbaidschaner. Tausende starben. Das reiche Kulturerbe Karabachs, das als Wiege der aserbaidschanischen Kultur gilt, wurde von den armenischen Besatzern in beispielloser Weise vandalisiert. Die Welt wurde Zeuge einer von ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begleiteten Okkupation. Internationale Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. 1993 bestätigte der UN-Sicherheitsrat in vier Resolutionen, dass Karabach und die umliegenden, von Armeniern besetzten, Gebiete völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehören und dass die Besatzung unverzüglich zu beenden sei.

Doch niemand setzte diese Resolutionen um. Stattdessen musste das militärisch und politisch geschwächte Aserbaidschan 1994 einen Waffenstillstand mit den triumphierenden Armeniern schließen, der den Konflikt beider Länder „einfror“.

Rechtlich war die Sache mehr als klar. Ein Land (Armenien) überfiel ein anderes (Aserbaidschan) und besetzte brutal einen Teil davon. Die naheliegende Lösung wäre gewesen, dem von der UN verbrieften Recht Geltung zu verschaffen, notfalls mit einem „robusten Mandat“. Wozu sonst gibt es das Völkerrecht, UN-Mandate, Blauhelme und all die anderen internationalen Institutionen? Doch in den folgenden 26 Jahren geschah: nichts.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gründete die Minsk-Gruppe, die ab 1996 von Frankreich, einem eingefleischten Gegner Aserbaidschans, mitgeleitet wurde. Ein anderer Ko-Vorsitzender der Minsk-Gruppe war Russland, also die Macht, die Armenien unterstützte und dafür im Gegenzug kontrollierte und für seine Zwecke instrumentalisierte. Der Verdacht liegt nahe, dass die Minsk-Gruppe eine Alibi-Veranstaltung war, mit der die siegreichen Armenier und ihre Unterstützernationen den Status quo erhalten und ihre Beute aus dem Krieg der frühen 1990er absichern wollten. Sie perpetualisierte durch ihre Passivität die Aggression.

2020 nahmen die mittlerweile militärisch und politisch wiedererstarkten Aserbaidschaner, denen niemand das Recht gab, von dem die UN und andere behaupteten, dass es ihnen doch zustand, ihr Schicksal in die eigene Hand und warfen einen Teil der Separatisten aus dem Land.

Es blieb aber noch eine kleine Blase von Separatisten in Aserbaidschan bestehen. Mochten 2020 einige von ihnen immer noch davon träumen, dass sie dort dauerhaft weiterwurschteln und den „eingefrorenen Konflikt“, also faktisch die Früchte ihres Aggresionskriegs, genießen könnten wie seit 1994, begannen diese Illusionen immer mehr zu zerbröseln, nachdem Russland seine alte Funktion als Schützer-Benutzer Armeniens im Gefolge seines 2022 begonnenen Kriegs gegen die Ukraine aufgeben musste. So gesehen, kann die aktuelle Zuspitzung auch als eine Begleiterscheinung des Scheiterns und Niedergangs des russischen Imperialgedankens gelesen werden.

Im Mai 2023 erklärte der Ministerpräsident Armeniens, sein Land erkenne Karabach als Teil Aserbaidschans an. Zwar nur, wenn die Rechte der dortigen Armenier gewahrt würden, aber immerhin.

Die Separatisten mussten danach zusehen, wie die Unterstützung für ihren Traum immer rasanter dahinschmolz. Nicht einmal die beiden Hauptsponsoren ihres Separatismus, Russland und das von ihm wweitgehend abhängige Armenien, standen noch vorbehaltlos zu ihnen.
Ab Ende Juli versuchte die separatistische Community dann, jenes rhetorische Totschlagmittel zu zücken, die auch in der Vergangenheit immer wieder der Sache der armenischen Separatisten von Karabach geholfen hatte und die gerade in Deutschland immer noch wirkt: die Genozid-Keule. Die üblichen proarmenischen Kreise sangen mit im Chor. Aber es half nichts. Denn es gibt keinen von den Aserbaidschanern in Karabach verübten Genozid. Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Luis Moreno Ocampo scheiterte mit einem rasch zusammengeschriebenen Versuch, die Weltöffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen, krachend auf der juristischen Ebene und auch sonst.

Überzeugt von ihrem nationalistischen Sendungsbewusstsein und ihrer Fähigkeit, die Vergangenheit zu interpretieren, geben die Separatisten aber immer noch nicht auf. Sie wollen weiter einen Staat im Staate bilden.
Was jetzt passiert, ist, dass die Aserbaidschaner jenen Weg zu ihrem völkerrechtlich verbrieften Anspruch, Herr in ihrem eigenen Land zu sein, weitergehen, der in der Vergangenheit aus ihrer Sicht der einzig erfolgreiche gewesen ist: Sie vertrauen ihrer eigenen Stärke (und der ihres wichtigsten und möglicherweise einzigen wirklichen Verbündeten, der Türkei) und der geopolitischen Gunst der Stunde. Nur so, das hat sie die Erfahrung gelehrt, können sie das himmelschreiende Unrecht, das ihnen 30 Jahre von Aemenien angetan wurde, endlich beenden. Recht und Diplomatie haben ihnen bisher nicht dazu verholfen.

Wenn die Europäer, allen voran Frankreich, das immer noch unter seinem postkolonialen Phantomschmerz zu leiden scheint und eine Rolle als „Schutzmacht“ der Armenier einnehmen möchte, in dieser Situation mit ihrem gewohnten moralischen Impetus auf Aserbaidschan zeigen, ist das scheinheilig. Denn es war auch ihr 26 Jahre lang fortgesetztes Versagen, ihre Gleichgültigkeit und ihr Kuschen vor dem Unrecht, das zur heutigen Lage geführt hat. Die jüngsten militärischen Operationen in Karabach demonstrieren auch das Scheitern von mehreren Jahrzehnten europäischer Politik, die in Karabach, aber auch auf Schauplätzen wie der Ukraine, auf dem Schönreden oder Ignorieren von Völkerrechtsverletzungen beruhte. Diese Haltung ist zutiefst zynisch, denn sie legitimiert die Aggression und den Rechtsbruch, lässt die Opfer auf dem Schaden sitzen und inkriminiert sie in dem Augenblick, in dem sie zur Selbstverteidigung übergehen. Wie oft hat man diejenigen Politiker, die am 19. September 2023 lautstark Aserbaidschan zur Beendigung seiner Militäroperation aufriefen, Armenien und die Karabachseparatisten dazu aufrufen hören, ihre völkerrechtswidrige und brutale Besetzung aserbaidschanischen Territoriums zu beenden und ihre völkerrechtswidrig dort installierten Militäreinrichtungen umgehend zu beseitigen? Wie unangenehm für die europäischen Augen-zu-Politiker, dass Länder wie die Ukraine oder Aserbaidschan sich nicht damit abfinden, dauerhaft das Opfer von Aggression und Besetzung zu sein.

Was am 19. September begonnen hat, könnte der letzte Akt im 1987 begonnenen fatalen Rausch des armenisch-nationalistischen Überschwangs im Südkaukasus sein. Es scheint, dass es sich um ein blutiges, aber kurzes militärisches Endspiel gehandelt haben könnte. Nach heutigem (20. September) Stand sollen die Separatisten sich zur Niederlegung der Waffen bereiterklärt haben, und Verhandlungen über die Wiedereingliederung der besetzten Gebiete in Aserbaidschan sollen am morgigen Donnerstag beginnen.

Möge der letzte Krieg um Karabach bald endlich Geschichte sein!

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